Religiöse Geschichten


Ein Sufi (Nanak) ruhte einmal sehr glücklich und zufrieden; seine Beine waren ausgestreckt, die Arme unter den Kopf gelegt, und er war ganz entspannt. Ein Vorübergehender, ein sehr frommer Mann, sah ihn so und rief aus: „O, ich wusste nicht, dass du eine so unverschämte Person bist!“ Der Sufi war ganz überrascht über diesen Vorwurf. „Warum?“, fragte er, „warum sagst du, dass ich unverschämt sei? Ich tue nichts, ich ruhe mich hier nur friedlich aus!“ – „Du liegst auf eine höchst unverschämte Art, weil deine Füße nach Mekka zeigen!“ sagte der fromme Mann. Der Sufi dachte einen Augenblick nach. „Komm bitte hierher, mein Freund“, sagte er dann, „nimm meine Beine und drehe sie in jene Richtung, wo Allah nicht ist.“

Zwei Altväter wohnten in einem Kellion und hatten sich nie jemals auch nur im geringsten entzweit. Da sprach einmal der eine zum andern: Wir wollen auch einmal einen Streit anfangen wie andere Leute. Der andere aber sagte: Ich weiß nicht, wie ein Streit entsteht. Jener antwortete: Sieh, ich lege hier einen Ziegelstein in die Mitte und sage: Er gehört mir. Darauf sagst du: Nein, er gehört mir! Und daraus entsteht dann Streit und Zank. Und nachdem er den Stein in die Mitte gelegt hatte und sagte: Der ist mein und nicht dein!, antwortete der andere: Ich glaube, er ist mein. Hierauf sagte der erste wieder: Er ist doch mein und nicht dein! Da sagte der zweite: Wenn er denn dein ist, dann nimm ihn!
Darauf hatte ihr Streit wieder ein Ende.

Wüstenväter

An einem Abend, als wir hinaus gingen, kamen wir vier Obdachlosen zu Hilfe und holten sie von der Straße. Eine von ihnen war in einem hoffnungslosen Zustand. Ich sagte den Schwestern, „Kümmert ihr euch um die andern. Ich kümmere mich um die, die am schlimmsten dran ist.“ Ich habe alles für sie getan, was meiner Liebe möglich war. Ich habe sie schlafen gelegt, und ich sah, wie ein schönes Lächeln ihr Gesicht erhellte. Sie drückte meine Hand und war nur noch im Stande ein Wort zu sagen, „Danke“. Und dann schloss sie ihre Augen.

Ich konnte nicht anders als mich hier neben ihrem Körper zu fragen, „Was hätte ich gesagt, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre?“ Meine Antwort war sehr einfach. Ich hätte gesagt, dass ich hungrig wäre, dass ich sterben würde, dass mir kalt ist. Oder ich hätte gesagt, dass dieser oder jener Teil meines Körpers schmerzt oder etwas in der Art. Aber sie gab mir viel mehr. Sie gab mir ihre dankbare Liebe. Und sie starb mit einem Lächeln auf ihrem Gesicht.

Mutter Teresa


Gemäß der Erzählung von einem Manne, der ein Viehhirte war und der nicht zu beten wusste. Jeden Tag aber pflegte er zu sprechen: „Herr der Welt! Offen und kund ist’s vor dir, dass wenn du Vieh hättest und du es mir zum Hüten gäbest – für alle hüte ich um Lohn –, für dich würde ich’s umsonst tun, denn ich liebe dich.“
Einst ging ein Gelehrter seines Wegs und traf den Hirten, der also betete. Da sprach er zu ihm: Narr, bete nicht so. Der Hirte fragte diesen: Wie denn soll ich beten? Sogleich lehrte ihn der Gelehrte die Ordnung der Segenssprüche und das Rufen des Schema, damit er nicht ferner spreche, was er zu sprechen gewohnt war.
Dem Gelehrten aber schien im Traume der Nacht, dass man zu ihm sprach: Wenn du nicht hingehst und sagst, dass er sprechen solle, was er zu sprechen gewohnt war bevor du zu ihm kamst, dann wisse, dass Böses dich treffen wird, denn geraubt hast du mir einen von der Kommenden Welt.
Sogleich ging er hin und fragte: Was betest du? Sagte der Hirte: Nichts, denn vergessen habe ich, was du mich gelehrt hast, und verboten hast du mir zu sprechen: „Wenn du Vieh hättest...“ Sagte zu ihm der Gelehrte: Das und das kam mir in den Traum. Bitte sprich, was du zu sprechen gewohnt warst. Jüdische Erzählung

Und als die Nacht herangekommen war, kam zum Erhabenen eine Gottheit, die ergoss mit ihrer herrlichen Erscheinung Glanz über das ganze Jetavana. Und sie brachte dem Erhabenen ehrfurchtsvollen Gruß und trat zur Seite hin. Und zur Seite stehend, sprach die Gottheit vor dem Erhabenen diesen Spruch:


Das Leben schwindet hin; kurz ist das Dasein.
Das Alter reißt uns weg. Nichts kann uns retten.
Des Todes drohende Gefahr erkennend,
Verlasse man die Weltlust, suche Frieden.


So sprach jene Gottheit. Der Meister gab ihr seinen Beifall. Da dachte die Gottheit: „Der Meister gibt mir seinen Beifall“, und sie brachte dem Erhabenen ihren ehrfurchtsvollen Gruß, umwandelte ihn rechtshin und verschwand von selbiger Stätte.

Nach Samyutta Nikaya I

Weißt du, was du als Schüler zu tun hast?“ „Nein“, antwortete der Mann und bat den Lehrer, es ihm zu sagen. „Nun, du musst Wasser holen, Brennholz sammeln, kochen und viele Stunden lang schwere Arbeiten verrichten. Außerdem musst du studieren. Bist du bereit, dies alles zu tun?“
„Nun weiß ich, was der Schüler zu tun hat“, erwiderte der Mann. „Sagt mir nun bitte, was tut der Lehrer?“
„O, der Lehrer sitzt nur da und gibt in seiner ruhigen Art spirituelle Unterweisungen.“
„Aha!“ sagte der Mann. „Dann möchte ich kein Schüler werden. Warum macht ihr mich nicht zum Lehrer?“

Indische Erzählung

Wenn im Gespräch ein Bruder die Fehler eines anderen ausbreiten wollte, konnte Viktrizius sehr ernst werden. Es war einmal bei einer Unterhaltung, als einer die Fehler eines anderen ausführlich erzählen wollte, dass Pater Viktrizius ihn aufsuchte und ihm unter vier Augen sagte, dass er so etwas nie wieder tun dürfe. Keiner hat es je erlebt, dass er sich über einen anderen abträglich geäußert hätte. Ein Oberer war einmal verärgert darüber, dass der Provinzial immer nur Gutes wusste, und bemerkte: „Er betet den ganzen Tag, spricht nie von sich selbst und weiß alles zu entschuldigen.“ Einer meinte vor Viktrizius: „Sie haben auch noch Lob für den Teufel!“ Die Antwort lautete: „Ja, er ist sehr fleißig.“

Über Pater Viktrizius Weiss

Alexander der Große, der in Indien eingefallen war, hörte von einem Hindu Heiligen. Er sandte einen Botschafter mit dem Ultimatum zu ihm, sofort zu kommen und belohnt zu werden oder seinen Kopf zu verlieren. Nachdem der Heilige dies vernommen hatte, lächelte er und sagte: „Alexanders Geschenke und Versprechungen sind völlig wertlos für mich. Ließe er mir den Kopf abschlagen, so bliebe mein Selbst dennoch erhalten. Es würde zum Herrn zurückkehren und den Körper wie ein abgelegtes Gewand zurücklassen. Mag er die bedrohen, die nach Gold und Reichtum trachten und den Tod fürchten. Ich brauche nichts von Alexander und werde nicht zu ihm gehen. Wenn er etwas von mir will, dann soll er zu mir kommen.“

Indische Erzählung

Zu jener Zeit gab es viele Asketen und Brahmanen, die sich tief in den Wald zurückzogen, um die Befreiung zu erlangen. Als sie jedoch an solch abgelegenen Orten weilten, wurden sie immer wieder von Furcht und Angst befallen. Buddha, der Erhabene, wusste dies und dachte bei sich: „All die lieben Asketen und Brahmanen, mit unstetem und zerstreutem Sinn, suchen abgelegene Orte auf, und erfahren schuldige Furcht und Angst. Wie, wenn nun auch ich an solchen Stätten des Grauens und Entsetzens weilte, damit ich doch erführe, was jene Furcht und Angst sei?“ So entschlossen begab sich der Erhabene in verrufener Nacht, bei Neumond, tief in den Wald. Dunkelheit umschloss ihn. Es kam ein Reh herbei, ein Waldhuhn knickte einen Ast, der Wind fuhr durch das Laub – und es kam die Angst.
Doch als er so ging und die Angst kam, blieb er nicht stehen. Nach einer Weile setzte er sich an einer Lichtung nieder. Und wieder kam die Angst. Doch als er so dasaß und die Angst kam, stand er nicht auf. Nach einer Weile legte er sich zur Seite nieder. Und wieder kam die Angst. Und als er zur Seite dalag und die Angst kam, drehte er sich nicht um.
Bei Tagesanbruch, als die ersten Sonnenstrahlen durch die Bäume drangen, erhob sich der Erhabene, und mit festen Schritten ging er aus dem Wald.Über Buddha, erzählt nach den Mittleren Lehrreden I 4

Einmal nahm Meister Ryōkan an einer formellen japanischen Teezeremonie teil. Dabei sitzen die Gäste in einer speziellen Teehütte in einer Reihe. Der Gastgeber bereitet eine Schale sehr starken grünen Tee zu, von dem dann alle Gäste nacheinander einen Schluck nehmen. Ryōkan leerte die ganze Tee-Schale, realisierte dann aber, dass neben ihm noch ein anderer Gast saß. So spuckte er den Tee wieder zurück in die Schale und bot ihn seinem Nachbarn an. Dieser betete um den Schutz des Buddha und trank den Tee.
Bei derselben Gelegenheit holte Ryōkan einen trockenen Nasenpopel aus seiner Nase und versuchte ihn unauffällig zu seiner Rechten abzulegen. Der Gast rechts zog empört seinen Ärmel zurück. So versuchte es Ryōkan zu seiner linken Seite; doch der Gast dort wich ebenfalls zurück. Als Ryōkan erkannte, dass er in der Klemme saß, steckte er den Popel einfach wieder in seine Nase zurück. Meister Ryōkan, Alle Dinge sind im Herzen, Herder-Verlag