Sünde und Tugend

 

Gewissen versus Bewusstsein


Deine Vorstellungen von Scham und Schuld sind ein gesellschaftliches Phänomen. Wofür sich Menschen in einer Gesellschaft schuldig fühlen, dafür fühlen sie sich in einer anderen Gesellschaft nicht schuldig. Scham und Schuld sind nicht natürlich. Es ist nur so, dass bestimmte Religionen dir wegen allem ein Schuldgefühl eingeimpft haben. Wenn es keinen Raum für Schuld und Scham gäbe, würdest du deine Handlungen korrigieren. Schuld und Scham geben dir einen großen Schattenbereich in deinem Leben. Du kannst endlos die gleichen dummen Dinge tun, dich deswegen schuldig fühlen, deine Schuld wegwaschen, die gleichen Dinge wieder tun...


Du brauchst kein Gewissen – du brauchst Bewusstsein, denn Bewusstsein ist einbeziehend. Diese Einbeziehung korrigiert deine Handlungen. Du unterlässt eine Handlung nicht, weil du denkst, dass sie falsch ist. Du weißt, dass du es dir selbst nicht antun möchtest, also möchtest du es auch jemand anderem nicht antun. Das Bewusstsein korrigiert dich wegen deiner Einbeziehung. Das Gewissen versucht, dich mit Schuld, Angst, Strafe und Scham zu korrigieren. Das Einimpfen von Scham und Schuld bedeutet, dass kein Interesse an Wachstum, Transformation und Transzendenz eines Menschen besteht. Es besteht nur das Interesse, sie an der Leine zu halten. Schuld und Scham entstehen aus einem gesellschaftlichen Gewissen, nicht aus universellem Bewusstsein. Sollte man Selbstliebe lernen? - isha.sadhguru.org

Sadhguru

Eine aus universellem Bewusstsein abgeleitete Ethik


Die ethischen Vorschriften im Umgang mit anderen bestehen aus

Nicht-Verletzen,
Wahrhaftigkeit,
Nichtstehlen,
Enthaltsamkeit und
Unbestechlichkeit.

Diese Grundregeln sind nicht durch soziale Schicht, Ort, Zeit oder Umstände bedingt. Sie durchdringen alle Bereiche des Lebens und bilden das große universelle Gelübde. Yoga Sutra II 30-31, vgl. die letzten fünf der 10 Gebote

Patanjali

Sünde als Missachtung des universellen Gesetzes


Ein universales Gesetz besitzt drei Charakteristika: Es gründet in Wahrheit. – Es ist unberührt von Zeit und Ort. – Es ist unabhängig von menschlichem Wissen und Tun.

Der Mensch erfüllt nicht das Gesetz, das Gesetz erfüllt sich selbst durch ihn. Dass er das Gesetz nicht achtet, befreit ihn nicht von der Verpflichtung, ihm nachzukommen. Wer es nicht beachtet, wird durch dessen gebieterische Macht selbst hineingezogen. Sein Ungehorsam trifft nicht das Gesetz, es trifft nur ihn; denn das Gesetz zerbricht den Menschen, der es bricht. Das gilt für alle physikalischen, moralischen, sozialen und spirituellen Gesetze. Die Natur zwingt jeden von uns, dem Opfergesetz zu folgen – bewusst oder unbewusst – oder zu vergehen. Obwohl es für alle verbindlich ist, ist es kein strenger Verhaltenskodex. Es zeigt uns nur, wie wir auf natürliche Weise zu Harmonie und Frieden finden können. Das Gesetz erscheint nur dem als streng, der es umgehen will. Dem, der es wissentlich und mit Vertrauen befolgt, wird es zur Gewohnheit, zur Lebensweise, zu einer Haltung, zu einem Teil seines Wesens. Meditation, Vedanta-Gesellschaft Wiesbaden
Bhajanananda

Sünde gegen uns selbst


Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Lästerung, Hochmut und Unvernunft. All dieses Böse kommt von innen und macht den Menschen unrein. Mk 7,21-23

Neues Testament


Wenn wir unser Leben betrachten, erkennen wir, dass fast unser ganzes Leiden von unseren falschen Handlungen herrührt. Wir handeln falsch, weil wir unfähig sind, die richtigen Entscheidungen zu treffen, und wir können nicht richtig entscheiden, weil wir nicht frei sind. Wir werden ständig von unseren Gedanken, Emotionen und Instinkten angetrieben. Unsere einzige wirkliche Freiheit ist, Zuschauer unserer Gedanken und Handlungen zu sein – eine Freiheit, die wir dem Selbst (Atman) verdanken. Dieses zuschauende innere Bewusstsein nennt man prajna.
Im Stress und Hasten gelingt es uns selten, prajna zu bewahren. Wir sind kaum jemals freier Zuschauer und steuern bewusst unser Denken und Handeln. Meistens wird unser Leben vom Unbewussten beherrscht. Unser wahres Bewusstsein, die prajna, geht fast immer im brandenden Gewoge des Unbewussten unter. Dieser Verlust von Selbstgewahrsein heißt „Mangel an prajna“ (prajnaparadha). Dieser Mangel an prajna ist die Hauptursache unseres physischen und psychischen Leidens.


Unter prajna versteht man alle Fähigkeiten, die mit Selbstgewahrsein zusammenhängen, nämlich den Intellekt, den Willen und das Erinnerungsvermögen. Fast unser ganzes Leiden kommt daher, dass wir diese Fähigkeit nicht richtig einsetzen. Statt stets Zuschauer zu bleiben, identifizieren wir uns mit unseren Gedanken, Emotionen und den Sinnesobjekten. Diese Täuschung (das Versagen des Intellekts) ist der erste Fehler, den wir machen. Das getäuschte Denken wird durch Objekte des Vergnügens abgelenkt. Obwohl diese Tendenz durch unseren Willen unterbunden werden kann, unterlassen wir dies. Dieses Versagen des Willens kommt durch Versagen des Erinnerungsvermögens zustande. Wegen der Rastlosigkeit oder Trägheit unseres Denkens vergessen wir die Lehren weiser Menschen oder vergessen, wie sehr wir gelitten haben. Diese Arten des Versagens bilden gemeinsam das, was man "Mangel an prajna" nennt.
Die Gestaltung und der Lauf unseres ganzen Lebens hängen davon ab, wie sehr wir unsere prajna einsetzen. Physische und mentale Störungen werden hauptsächlich durch prajnaparadha verursacht. Mit anderen Worten: Sie sind das Resultat der Sünde gegen uns selbst. Das Ego und das wahre Selbst, Vedanta-Zentrum Wiesbaden
Bhajanananda

Sünde gegen die Welt


Das Wort „Sünde“ wird heutzutage so leicht missverstanden, dass es schon fast unbrauchbar wird. Was in anderen Zeiten Sünde genannt wurde, nennen wir Entfremdung. Die lebendige Sprache hat hier ein passendes Wort gefunden. Entfremdung suggeriert eine Entwurzelung vom eigenen wahren Selbst, von anderen, von Gott (oder was sonst von fundamentaler Bedeutung ist), und all das in einem einzigen Wort. Eine Handlung ist in dem Maße sündig, in dem sie Absonderung, Entfremdung verursacht. Was aber nicht Entfremdung verursacht, ist keine Sünde. Daraus die Konsequenzen zu ziehen, könnte sich für viele als befreiend, für andere als beschuldigend erweisen. Es könnte eine signifikante Gewichtsverlagerung in der Ethik von privater Perfektion zu sozialer Verantwortung bedeuten. Fülle und Nichts, Herder Verlag, Freiburg

David Steindl-Rast

Tugendhaftigkeit ist kein Ziel an sich


Es ist bekannt, dass moralisches Verhalten nicht einmal den Beginn der Spiritualität markiert. Spiritualität beginnt erst nach einer voll entwickelten Sittlichkeit. VII, Call to the Eternal, Advaita Ashrama, Kalkutta

Ashokananda

Das spirituelle Leben ist der Kampf um die Erkenntnis der Höchsten Wirklichkeit, und Moral ist der allererste Schritt in diesem Kampf. Ist das Leben eines Menschen einmal auf die Höchste Wirklichkeit ausgerichtet, wird das moralische Leben, sobald die Seele den spirituellen Weg eingeschlagen hat, zu einer Selbstverständlichkeit.
Das bedeutet aber nicht, dass ein moralisches Leben einfach ist. Tatsächlich weichen viele Menschen einem strengen moralischen Leben aus, weil es sehr schwierig ist und sie im Leben auch ohne die Kämpfe und Konflikte, die eine moralische Lebensführung mit sich bringt, zurechtkommen und Erfolg haben können. Aber wenn ein moralisches Leben als ein unvermeidlicher Teil des spirituellen Lebens verstanden wird, dann werden alle moralischen Konflikte und Leiden bedeutungsvoll und es Wert sein, auf sich genommen zu werden. Integral Education – Swami Vivekananda‘s Educational Vision

Bhajanananda